Umdenken

Die Zeit, die flieht

Gedicht Seele hat es eilig
Geschrieben von Nicola

In den letzten Monaten musste ich oft über die Möglichkeiten und Probleme nachdenken, die wir als Gesellschaft haben, die ausgetretenen Pfade verlassen zu können, um zu einer nachhaltigeren Entwicklung zu gelangen. Die Erfahrung zeigt, dass sich die Gesellschaft in der wir leben nur sehr schwer der neuen Zielvorstellung annimmt (Stichwort: Klimalüge) und noch schwerfälliger ist es neue Maßnahmen zu entwickeln, um diese Zielvorstellung zu erreichen (Stichwort: „Not in my backyard“-Syndrom). Maßnahmen sind aber bitter nötig, um den Schaden an unserer Lebensgrundlage zu begrenzen.

Es genügt nicht eine nachhaltige Entwicklung von den Anderen lediglich zu fordern und selbst das Leben so weiter zu leben wie bisher. Dies führte bei mir zu der Einsicht, dass ich nicht bei der Gesellschaft anfangen und dort aufhören sollte, um Veränderungen herbei zu führen. Ich muss vielmehr bei mir selbst für eine stetige Entwicklung sorgen. Ich selbst kann mich verändern, wenn ich es will. Und wenn ich mich verändere, fange ich an die Gesellschaft zu verändern.

Warum ich das Ganze schreibe: kürzlich hat mich ein Freund auf das Gedicht „Die Zeit, die flieht“ (frei übersetzt) von Ricardo Gondim (brasilianischer Theologe, progressiver Pastor und Autor) aufmerksam gemacht, dass das Thema der Veränderung und zur Besinnung zum Wesentlichen in einer unvergleichlichen Art aufgreift. In einer zwar unvollständigen, aber inhaltlich ausreichenden Übersetzung lautet es wie folgt:

Die Zeit, die flieht

Ich habe meine Jahre gezählt und festgestellt, dass ich weniger Zeit habe, zu leben, als ich bisher gelebt habe. Ich fühle mich wie dieses Kind, das eine Schachtel Bonbons gewonnen hat: die ersten verschlingt es, aber als es merkt, dass nur noch wenige übrig sind, wurde es traurig.

Ich habe keine Zeit mehr, mit Mittelmäßigkeit zu kämpfen. Ich will nicht in Besprechungen sein, in denen aufgeblasene Egos aufmarschieren. Ich vertrage keine Manipulierer und Opportunisten. Mich stören die Neider, die versuchen, Fähigere in Verruf zu bringen, um sich ihrer Positionen, Talente und Erfolge zu bemächtigen.

Ich habe keine Zeit mehr für endlose Konferenzen, um Statuten, Regeln, Verfahren und internen Vorschriften zu diskutieren. In denen Organisationen versuchen, sich durch endlose organisatorische Details zu schützen und zu verewigen. Ich habe keine Zeit mehr, dabei absurde Menschen zu ertragen, die ungeachtet ihres Alters nicht gewachsen sind. […]

Ich erinnerte mich an Mário de Andrade, der sagte: „Die Leute diskutieren nicht Inhalt, nur die Etiketten“. Meine Zeit ist für das Debattieren von Etiketten knapp geworden. […]

Ohne viele Süßigkeiten in der Packung möchte ich mit Menschen leben, die sehr menschlich sind. Menschen, die über ihre Fehler lachen können, die sich nichts auf ihre Erfolge einbilden und sich nicht vorzeitig berufen. Die, die menschliche Würde verteidigen und die demütig an der Seite Gottes gehen.

***

Auch wenn das Gedicht stark religiös eingefärbt ist und ich nicht so gläubig bin, um gleich an der Seite Gottes gehen zu müssen, denke ich, dass wir versuchen sollten die Süßigkeiten, die uns noch bleiben, nicht zu verschwenden. Das tun wir etwa indem wir uns alleine mit den Untiefen gesellschaftlicher Entwicklung befassen und uns daran aufreiben, statt voran zu kommen.

Stattdessen sollten wir dafür Sorge tragen, dass die übrigen Bonbons köstlicher sein werden. Wie sieht für uns das Leben aus, dass dafür sorgt, dass wir die letzten Bonbons nicht verschlingen? Diese Frage muss die Gesellschaft nicht beantworten, denn jeder kann sich diese Frage selbst viel einfacher und schneller beantworten. In der westlichen freien Welt wird auch keiner wirklich davon abgehalten, das Leben in diesem Sinne zu leben. Alleine unsere individuelle Kraft der Verführung zu widerstehen und somit unsere persönliche Reife kann uns davon abhalten den nächsten Bonbon zu verschlingen.

Original-Gedicht: http://www.ricardogondim.com.br/poemas/1401/ (Geistert auch als „Meine Seele hat es eilig“ von Mário de Andrade oder von anderen Autoren und in verschiedenen Versionen herum im Internet)

Artikelfoto: Pixabay.com / analogicus