Jede Geschichte hat immer 2 Seiten. So auch die Geschichte von Obdachlosen. Unsere Seite und damit unsere Wahrheit über Obdachlosigkeit kennen wir bereits. Die andere Seite, die der Obdachlosen selber, kennen wir noch nicht.
Genau um diese Seite der Medaille kümmert sich Stefan Weiller in der Deutschen Winterreise, die auf Interviews mit wohnungslosen und sozial ausgegrenzten Menschen basiert. Weiller, studierter Sozialpädagoge und Autor, widmet sich als Künstler existenziellen Fragen in anspruchsvollen dokumentarischen Kunstprojekten. Das Hamburger Abendblatt sagt über den 44-Jährigen aus Frankfurt am Main: „Er ist der Spezialist für das Ungemütliche.“
Ein Grundsatz bisheriger Projekte ist der freie Eintritt und die Verbindung mit anerkannt gemeinnützigen Trägern, für die er seine Arbeiten anbietet. Der Grund: Jeder soll sich die Stücke anschauen können, auch die Obdachlosen. Damit die Projekte möglich sind, braucht es daher jeweils ein breites Netzwerk an Förderern und Unterstützern.
Netterweise hat uns Stefan Weiller aus der Deutschen Winterreise einige sehr eindrucksvolle Kurzgeschichten über Armut, Entzug, Eiszeit, Hoffnung, Respekt und Glück zur Veröffentlichung gegeben.
Es gibt zwei Leben: Zuerst mein Bürgerliches, darin hatte ich alles: Ausbildung, Familie, Einkommen, Haus.
Plötzlich kam ein neuer Chef, eine seltsame Krankheit, eine überforderte Familie, ein Leben in Schieflage. Jetzt
bin ich in meinem postbürgerlichen Leben angelangt. Und das ist wirklich okay.Karlsruher Winterreise
Ich gehe wie ein Tourist. Mein Rucksack wird tagsüber versteckt. Ich will nicht so aussehen, wie – na, Sie wissen schon.
Berliner Winterreise
Da stehst Du also und brauchst dringend Kohle für eine Flasche Schnaps. Dann will Dir einer kein Geld geben, sondern ein Brötchen. Eine sagte: „Du würdest es doch sowieso bloß versaufen.“ Aber Du zitterst vor Entzug. Du brauchst Deinen Schnaps, damit der Kreislauf nicht zusammenbricht. Ein Brötchen hilft da nichts. Entzug – mal eben so auf der Straße – so läuft das nun mal nicht.
Wiesbadener Winterreise
Ich kann nicht sagen, ob ich diesen Weg selbst gewählt habe. Wenn, geschah es unbewusst. Wer ist schuld?
Meine größte Angst ist, dass meine Familie erfährt, was mit mir passiert ist. Aber ich habe gelernt, alleine zu sein.
Es heißt immer, die Hoffnung stirbt zuletzt. Das ist falsch. Hoffnung stirbt viel früher, die ist tot und ich bin
noch da.Deutsche Winterreise
Man denkt ja immer, Weihnachten sei das mit der Obdachlosigkeit besonders schlimm. Das stimmt gar nicht. Schlimm ist es im April, wenn sich kein Mensch und keine Zeitung mehr für dich interessiert. Oder im Juli, wenn jeder denkt, wir hätten es ja jetzt hübsch warm und romantisch – so arbeitslos und lässig im Park. Weihnachten, da kommen den Leuten Gefühle, da hat jeder Angst, du könntest unter städtischem Lichterschmuck erfrieren und mit deinem toten Kadaver so richtig die Glühweinstimmung vermiesen. Sobald es draußen wieder blüht, glaubt jeder, jetzt sei alles gut. Aber hab ich mehr Freunde, nur weil die Rosen blühen? Gibt mir einer einen Job, nur weil Krokusse im Park stehen? Soll ich zufrieden sein, nur weil es warm ist? Im Sommer, wenn sich wirklich keiner mehr für dich interessiert, dann ist eigentlich Eiszeit.
Frankfurter Winterreise
Einen Hund zu haben, kann Nachteile bringen. Denn jeder will dem armen Tier etwas geben und du gehst leer aus, oder wirst als Tierquäler beschimpft. Manchmal kriege ich von den Leuten so viel Hundefutter, dass ich es selbst spenden muss.
Kasseler Winterreise
Manches habe ich auf der Straße gelernt: Respekt vor den Gefallenen, vor dem Mann, der in der Sommerhitze in der Fußgängerzone vor sich hin zittert und nicht einmal bettelt, vor der Frau, in deren Schoß ein Hündchen liegt, das sie liebt und für das sie von Passanten als „Tierquälerin“ beschimpft wird, für den Junkie mit Suchtdruck, für die Roma, die von den anderen als Konkurrenz gesehen wird, für das Kind, das aus Angst nicht mehr nachhause geht, sondern zu dem Mann mit den Geschenken. Von all den Erfahrungen bleibt etwas zurück. Ich habe zu viel gesehen. Mehr als mein Auge fassen kann. Und es geht immer weiter.
Düsseldorfer Winterreise
Das Glück riecht nach Bratkartoffeln auf dem eigenen Herd und nach eigenem Geschmack gewürzt. Viel mehr ist es nicht, das Glück. Aber auch nicht weniger.
Düsseldorfer Winterreise
Glück, das ist mein Koffer. Wenn ich meinen Koffer irgendwo unterbringen könnte – das wäre Glück. In diesem Koffer ist mein Leben. Erinnerungen, Bilder, das, was man „persönliche Gegen-stände“ nennt. Das Geld für die Gepäckaufbewahrung habe ich nicht. Der Koffer ist Luxus. Und viel zu groß. Ich schleppe ihn überall hin. Tagelang trage ich ihn durch die Stadt. Mittlerweile sind Jahre daraus geworden. Der Koffer ist mein Zuhause. Mein Leben ist da drin. Dinge, die zum Reisen nicht geeignet sind. Ich brauche diesen Koffer. Aber zugleich ist er ein Fluch. Ballast. Ich werde mich von ihm trennen müssen. Das meiste wegwerfen, das wichtigste behalten. Glück wäre, einen Ort für meinen Koffer zu haben.
Wiesbadener Winterreise
Artikelbild: morguefile.com
Wow, danke für diese wirklich bewegenden Kurzgeschichten. Ich werde Herrn Weiller und seine Projekte definitiv im Auge behalten.
Danke sehr, das freut mich. Ja, sie sind wirklich sehr bewegend und haben Augenöffner-Charakter.
[…] „Das Glück riecht nach Bratkartoffeln auf dem eigenen Herd und nach eigenem Geschmack gewürzt. Vielmehr ist es nicht, das Glück. Aber auch nicht weniger.“ von einem Obdachlosen aus Düsseldorf […]
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