Es gibt viele Vorurteile gegenüber dem Leben in Metropolen und fernab davon. Das transform Magazin hat Anfang des Jahres unseren Autor Matthias gefragt: Wie wird auf dem Land heutzutage gut gelebt? Zwischen Erinnerungen und aktuellen Geschehnissen versucht Matthias Antworten zu finden.
Die nette Dame vom eBay Support muss komisch geguckt haben, als ich ihr erklärte, dass sich hier auf dem Land oft mehrere Dörfer eine Postleitzahl teilen. „Wie – es haben mehrere Orte die gleiche Postleitzahl? Das kann doch gar nicht sein.“ Während ich dachte, sie hätte aufgelegt – bestimmt ein Telefonstreich –, hörte ich kurz darauf ein herzliches Lachen: „Tatsächlich. Zehn Orte mit einer Postleitzahl! Das gibt es ja gar nicht.“
Doch, das gibt es. Hier auf dem Land gibt es das – und eine ganze Menge mehr. Oft aber auch eine ganze Menge weniger. Doch ist das Weniger nicht manchmal auch mehr?
Mobilität – vom Rollen und Liegenbleiben
Das Weniger wird genossen wie gehasst. Dem schnellen Puls der Stadt begegnet das Land mit viel Ruhe und wenig Aktivität. Zum Beispiel gibt es hier relativ wenig ÖPNV. ÖP…N…WAS? Na Bahnen, Busse und so. Mit Abkürzungen wissen hier auf dem Land nur die wenigsten etwas anzufangen. Wenn überhaupt mal ein Bus fährt, dann bis unter die Dachkante gefüllt mit Schulkindern. Also nur ein paar Mal am Tag. Autos sind mitten in der Botanik (leider noch) nicht zu ersetzen.
Trotz der Notwendigkeit eines Autos gibt es nahezu keine Staus auf dem Land. Und wenn, dann ist relativ gut abschätzbar, wann es zu Verkehrsbehinderungen kommen könnte. In meiner 100-Seelen-Heimat gab es beispielsweise höchstens viermal am Tag Stau oder stockenden Verkehr. Grund für das Stop-and-Go war dabei fast immer eine Horde wiederkäuender Vierbeiner – die Kühe mussten schließlich über die Straße zu den Weiden.
Derweil zu telefonieren wird durch das „ausbaufähige“ Handy-Netz verhindert. Das kann man als Problem sehen – oder als Segen. Denn in Zeiten, in denen Arbeitgeber unbegrenzte Erreichbarkeit fordern und Burnouts zu jedem Business gehören, bewerben immer mehr Tourismusdienstleister gezielt handyfreies Reisen. Dazu müssen wir auf dem Land nicht mal Störsender aufbauen – wir haben teilweise einfach kein Netz. Jede ausgedehnte Autofahrt bietet so neben vielen Schlaglöchern auch diverse Funklöcher.
Es gab auch lange Zeit mieses Internet. So mies, dass niemand ernsthaft in Versuchung kam, illegal Musik herunterzuladen oder eine Karriere als Online-Gamer zu starten. Während meiner Schulzeit hatte ich dies noch verzweifelt versucht. Doch der extrem langsamen Internetverbindung sei Dank, war mein Siegeszug oft beendet, bevor ich den Gegner überhaupt sehen konnte.
Intensives Erwachsenwerden
„Ich bin dann mal rüber zu Tobi“ war stattdessen ein häufiger Abschiedsgruß an meine Eltern, bevor die Haustür hinter mir zufiel. Ohne Absprache, wann ich wieder da zu sein habe, oder was wir machen würden. Alles kein Problem, wenn ich nur abends zeitig genug zurück war, um die Hausaufgaben zu machen. Das war bei mir zugegebenermaßen selten der Fall. Die Prioritäten lagen klar woanders: Es mussten Häuser im Stroh oder Heu gebaut werden!
Wir bauten einen ganzen Schuppen um, mit geheimen Gängen und unzähligen Fallen. Selbst Kevin (ihr wisst schon – der immer alleine zu Hause war) wäre stolz gewesen. Ich brauchte nie ein ausgetüfteltes Programm in den Schulferien. Zur Not wurden einfach die Zelte auf der Wiese gegenüber aufgeschlagen, ein Lagerfeuer angezündet und tagelang gezeltet. Alles inklusive – leichte Verbrennungen, diverse Insektenstiche und die eine oder andere Schürfwunde.
Auch Gruselgeschichten waren beim Zelten live und in 3D am Start. So lagen wir als Kinder einmal verteilt in zwei Zelten und hörten etwas. Nach kurzem Flüstern waren wir sicher: Da vergräbt jemand etwas in der Nähe. Unweit war ein kleiner Wald, der sich – da waren wir uns einig – perfekt zum Vergraben ungeliebter Beweismittel anbieten würde. Nicht ganz einig waren wir uns darüber, wer denn nachsehen sollte. Gemeinsam nahmen wir all unseren Mut zusammen. Bewaffnet mit Taschenlampen näherten wir uns dem Wald. Mit jedem Schritt wurde es lauter, seltsamer. Selbst die redseligsten unserer Truppe waren inzwischen verstummt, die Gefahr ganz nah. Doch das Geräusch kam nicht aus dem Wald, sondern von direkt daneben. Um die nächste Ecke abgebogen, fanden wir die Übeltäterin: Uns schaute, recht verdutzt ob der nächtlichen Ruhestörung, eine Kuh an. Zeitgleich verstummte auch das mysteriöse Geräusch. Kein Krimineller also, der da mit seinem Spaten schürfte. Bloß die Kuh, die aus einem Becken laut Wasser schlürfte.
Mit solchen oder ähnlichen Erlebnissen könnte ich sicher Bücher füllen. Ich hatte das Glück, nicht nur auf dem Land, sondern auf einem Bauernhof aufzuwachsen. Damals habe ich es natürlich nicht unbedingt als Glück erlebt. Wer freut sich als Kind schon, wenn immer mindestens ein Elternteil zu Hause ist? Heute sehe ich das etwas anders und denke, so manches Kind würde sich freuen, wenn manchmal auch nur ein Elternteil nach der Schule zu Hause warten würde.
Doch selbst wenn meine Eltern unterwegs waren, war das Haus selten leer. Zeitweise lebten dort fünf Erwachsene und drei Kinder. Während sich die Anzahl der Bewohner auf zwei reduziert hat – meine Eltern –, ist der Zustand der Haustür weiterhin stabil, nämlich nicht abgeschlossen. Davor das nicht abgesperrte Auto mit gestecktem Schlüssel. Zitat meine Eltern: „Was soll denn schon passieren?“
Und auch heute vergeht kein Tag, an dem auf dem Bauernhof nicht Action angesagt ist. Dank „Ferienwohnungen auf dem Bauernhof“ sind inzwischen viele Kinder hier zeitweise Zuhause. Ich bin jeden Sommer hin- und hergerissen zwischen Begeisterung und Entsetzen, wenn ich die Kinder aus den städtischen Gebieten bei ihren intensiven Land-Erlebnissen beobachte. Ein Kind, das voller Angst vor der Katze wegläuft, weil die in Erwartung einer Streicheleinheit mutig auf dieses zu tapst. Eins, das aus dem Stall herausgelaufen kommt, weil es die Zungenlänge einer Kuh unterschätzt hat – gut zu erkennen an den Sabberspuren auf dem T-Shirt. Oder eins, das ungläubig die eigene Hand begutachtet, weil die vermeintliche Pfefferminze in Wahrheit doch eine Brennnessel war. Meine Eltern hatten auch ein Kind zu Besuch, das beim Melken der Kühe fragte, ob mein Vater die jetzt wieder mit Milch befüllen würde.
Und trotzdem: die Gäste kommen immer wieder: Sie helfen im Stall, kennen die Kühe mit Namen – besser als mein Vater –, kennen die Leute aus dem Dorf oder den Nachbargemeinden, fühlen sich wohl. Sie genießen die frische Luft, die Ruhe, die vielfältigen Eindrücke. Sie machen Urlaub, wo andere Leute aufwachsen. Sie genießen das gute Leben auf dem Land.
Aber was ist das gute Leben überhaupt?
Ob die Metropolitaner danach wissen, wie heute auf dem Land gelebt wird? Nicht wirklich. Das gute Leben auf dem Land ist auf keinen Fall „Bauer sucht Frau“. Die Leute auf dem Land versuchen eher, so zu sein, wie die vermeintlich privilegierten Leute in der Stadt. Und umgekehrt. Machen wir uns nichts vor: Viele Städter versuchen – ergänzend zum Urlaub auf dem Land –, ehemals ländliche Elemente ins Stadtleben zu integrieren.
Urban Gardening ist so ein Beispiel. Ganze Häuserdächer werden zu Grünflächen umfunktioniert oder als Garten genutzt. Bei uns auf dem Land sieht man das dagegen immer weniger. Früher hatte jeder einen kleinen Garten hinter dem Haus, um zumindest einen Teil der gebrauchten Lebensmittel selbst anzubauen. Den Platz hätten auch heute noch viele, aber es wird nur selten gemacht. Das gilt auf dem Dorf heute zuweilen als uncool oder öko. Sowas machten ja die „Bauern“, und viele wollen lieber hip sein wie die Städter. Sie mähen wöchentlich den Rasen, sollte er noch nicht der angelegten Steinlandschaft gewichen sein, damit der SUV auch ja zur Geltung kommt.
Noch so ein Beispiel ist die Solidarische Landwirtschaft, bei der heute Städter ihre Arbeitskraft tageweise in Höfe stecken. Betrachtet man das als Versorgungsgemeinschaft, dann waren auch Dörfer früher ein großes Netzwerk, nicht von Einwohnern, sondern von Prosumenten. Der eine hatte Kühe und Milch, andere Schweine. Eine Nachbarin konnte gut nähen und ihr Mann war vielleicht ein ausgesprochen guter Schreiner. Lebensmittel wurden eingemacht und so gelagert, dass sie möglichst lange hielten. Wenn etwas nicht Saison hatte, dann gab es das auch nicht. „Es wird das gegessen, was auf den Tisch kommt!“, sagte meine Mutter oft. Vielmehr hätte der Satz lauten müssen: „Es wird gegessen, was auf den Tisch kommen kann.“
Hätte der überwiegende Anteil der Bevölkerung auf dem Land keine Abneigung gegen Anglizismen, dann hätte der Begriff „Sharing Economy“ hier wohl seinen Ursprung. Denn Dörfer teilen nicht nur die Postleitzahlen über Grenzen hinweg. Es ist ganz normal, dass nicht jeder Landwirt alle Maschinen kauft. Und auch der Hochdruckreiniger, diverses Werk- oder Fahrzeug wird geteilt oder verliehen. Bezahlt wird natürlich in Naturalien. So kommt es, dass man eigentlich immer eine Flasche Schnaps, Likör oder Pralinen im Haus hat – oder haben sollte.
Sicher, es treffen nicht alle hier beschriebenen Umstände auf alle ländlichen Regionen zu. Selbst von Dorf zu Dorf ist es oft unterschiedlich. Ich würde nicht pauschal sagen, dass die Lebensqualität auf dem Land höher ist als in der Stadt. Es ist Definitionssache, was ich persönlich für ein gutes Leben erachte, welche Kriterien ich diesem Vergleich – sollte er überhaupt notwendig sein – zugrunde lege. So lieben die meisten Menschen die Ruhe auf dem Land, um im Nebensatz vielleicht zu erwähnen, dass hier ja zu wenig los sei. Auch schwankt die eigene Definition je nach Lebenssituation. Nahezu alle Jugendlichen, die studieren möchten, ziehen dafür in eine Stadt, da das auf dem Land einfach (Ausnahme Fernstudium) nicht geht. Viele Familien ziehen dafür später wieder zurück aufs Land, bauen oder kaufen ein Haus und sind froh, endlich angekommen zu sein.
Mein gutes Leben auf dem Land ist für mich jedenfalls nach wie vor erste Wahl. Und wenn ich doch mal zu Starbucks will (gehe ich inzwischen zwar nicht hin -Anm. d. Red.), dann mache ich halt einen Tag Urlaub in der Stadt.
Artikelbild: Joel Holland, unsplash.com